Erhellendes zum Thema Sonnenfinsternis
Wenn es dunkel wird
Dr. Dieter Sträuli
Wenn es dunkel wird, sehen wir nichts mehr. Dann tauchen die inneren Bilder auf, die in einer erleuchteten Umgebung sonst von Landschaft und Möblierung verdeckt bleiben. Den Anfang machen meist relativ harmlose Gedanken. Je länger aber die Dunkelheit andauert, desto mehr Zeit haben auch die andern, die gefährlicheren Gedanken, den Weg von ihrem Schattenreich bis zum Bewusstsein zurückzulegen. Manche von ihnen sind formlose und neblige Gebilde, und es ist gerade diese Unbestimmtheit, die uns bedrohlich scheint. Der Rest trägt Krallen, Zähne, Tentakel, oft in einem wilden Durcheinander, das jeder Zoologie zu spotten scheint.
Leider wird die Ikonographie dieser Monstren von der Wissenschaft sträflich vernachlässigt. So wie bei der Heraldik jedes Element - Dreiberg, Schräglingsbalken und Teilung - genealogische Information transportiert, hat auch bei den Monstren jede Kralle, jeder Zahn und jeder Tentakel seine besondere Bedeutung. Wenn ich vorhin sagte, Wesen wie Drachen, Killer-Aliens und Riesenamöben seien zoologisch gesehen Absurditäten, so muss ich gleich beifügen: die Zoologie ist hier nicht allein zuständig. Was wir brauchen, ist eine Art funktioneller Logik der Bedrohung: Zähne sind zum Reissen da, Tentakel zum Festhalten und Stacheln zum Durchbohren. Die Monstren passen ihre Gestalt unserer ängstlichen Erwartung mit grosser Flexibilität an.
Woher kommen sie denn, sobald es dunkel wird, diese Vampire, Chimären und Heffalumpen? Aus unserer Vergangenheit, sagt die Psychologie. Genauer: aus unser ganz persönlichen Kindheit, aber auch aus der Kindheit aller Menschen, der grauen Vorzeit. Dunkel wird es nämlich vor allem dann, wenn Kind und Menschheit einen Entwicklungsschritt tun und sich sozusagen anschicken, von einer Lichtung in die nächste hinüberzuwechseln. Solche Schritte ziehen Attacken durch Monstren geradezu magisch an, weil es auf dem Weg zwischen zwei Lichtungen d. h. zwischen zwei stabileren Entwicklungsphasen vorübergehend dunkel wird: Dann drohen Riesentintenfische und Spinnen damit, uns am alten Ort festzuhalten, und die Stachligen winken vom neuen Ort her mit ihren Waffen und verheissen uns, sie würden uns derart umkrempeln, dass uns die eigene Mutter nicht mehr wiedererkenne, geschweige denn wir selbst.
Kein Wunder, dass Astrologinnen und Astrologen verlegen wirken und ihre Worte abwägen, wenn sie sich zum Charakter und zum Schicksal jener Kinder äussern sollen, die das "Licht" der Welt in Form einer Sonnenfinsternis erblicken werden. Astrologie hat ja eigentlich die Funktion, die Ungewissheit der existentiellen Zukunft etwas abzufedern. Aber bei einer derart bedrückenden Symbolik verschlägt es den Sterndeutern offensichtlich die Sprache.
Ich halte es nicht mit der Astrologie. Ihre Grundannahmen sind ja erstens, dass eine Auswahl der von der Erde aus gesehen am hellsten leuchtenden Himmelskörper in der Minute einer Geburt nicht zufällig in gewissen Sternbildern des Zodiaks stehen, zweitens, dass diese Gestirne untereinander sprechende Konstellationen wie Trigon, Quadrat oder Konjunktion eingehen, und drittens, dass, weil Planeten, Sternbilder und Konstellationen symbolische Namen tragen, der Sternenstand dadurch assoziativ mit dem ganzen symbolischen Verweisnetz der menschlichen Kultur verknüpft wird. Damit ist alles beisammen, was wir für ein Orakelsystem brauchen: einen Code, einen Nullpunkt für den Klienten oder die Klientin, wie die Karte, die im Tarot den Fragesteller verkörpert, und einige Variablen, die das Schicksal darstellen. Mein grösstes Problem mit der Astrologie liegt aber in ihrer Sprache. Noch nie habe ich von ihr einen Satz gehört, der mich getroffen hätte, weil er erstens von meinem Leben gehandelt und zweitens etwas ausgedrückt hätte, was ich noch nicht wusste.
Aber die Astrologie fasziniert offensichtlich. Sie habe neben der Funktion, von den tatsächlichen Problemen abzulenken, noch eine andere, wichtigere: Die Menschen können einander mit dem Code ihrer Tierkreiszeichen Liebeserklärungen machen und solche zurückweisen, ohne dass von der Sache selbst die Rede sein muss. Das ist nicht nur praktisch, sondern eigentlich unverzichtbar, denn wenn die Sternzeichen nicht zusammenpassen, braucht man deswegen noch lange nicht auf eine Beziehung zu verzichten, sondern weicht einfach auf den Aszendenten aus.
Dennoch mache ich mir Sorgen, wenn ich daran denke, wie manche astrologiegläubigen Mütter ihren Kindern begegnen könnten, wenn letztere unter dem Zeichen der Sonnenfinsternis geboren sind.
Dabei glaube ich selbst auch, dass die Konstellation von Sonne, Mond und Erde am 11. August sich schicksalshaft auf die dann geborenen Kinder auswirken wird. Nur wird das in ganz anderer Weise geschehen. Die betreffenden Kinder werden, sobald sie alt genug sind, dass sie sich für ihre eigene Vorgeschichte interessieren, die Legende ihrer Geburtsstunde zu hören bekommen. Zwar werden ihnen ihre Mütter keinen Augenzeuginnenbericht liefern können, da sie, als es eben mal etwas dunkler wurde, mit etwas Wichtigerem beschäftigt waren. Aber ihre Onkel und Tanten und Grosseltern werden dabeigewesen sein und ihnen gerne alles schildern, in den düstersten Farben.
Was jene Kindern dann vielleicht nicht bewusst verstehen, aber, ohne Hegel, Lacan und Freud gelesen zu haben, sehr wohl unbewusst auf sich beziehen werden, ist der Umstand, dass sie geboren wurden unter einem riesigen Modell der Subjektivität. Eine Art kosmische Computersimulation inszeniert für sie ein Wechselspiel von Dahinter und Davor, von Verdecken und wieder Freigeben, von Verschwinden und Wieder-zum-Vorschein-Kommen. Das ist ihr wahres Sternzeichen.
Subjektivität ist deshalb das Thema der Finsternis am Tage, weil es nur von einem privilegierten Ort aus zu sehen ist. Die einen werden an diesem Ort sein und sein Zeuge werden, die andern werden dieses Glück nicht haben. Unsere Auserwählten werden es zwar haben, aber dennoch nicht Zeuginnen und Zeugen sein, denn wie ihre Mütter sind sie anderweitig beschäftigt - damit, ins Sein zu treten. Die Unmöglichkeit, das Drama vom verlorenen und wiedergefundenen Objekt gesehen haben zu können, wird für sie selber zum verlorenen Objekt werden, welches ja das einzige ist, das wir begehren können. Die Ägypter hatten einen Mythos mit dem Titel "Vom Sonnenauge, das in der Ferne war und zurückgeholt werden musste", was eigentlich alles sagt.
Warum sollen wir nicht hoffen, dass in diesem dunklen Gürtel, der für eine kurze Zeit die ganze Welt umspannen wird, und auch ausserhalb von ihm, uns am 11. August eine Generation von Hoffnungsträgern geboren wird? In der Geburtslegende, mit welcher sie aufwachsen, sind nämlich folgende Erkenntnisse verschlüsselt:
o Wenn du es nie selber sehen konntest, dann vielleicht, weil du es selber bist.
o Bist du nicht im Schattengürtel geboren, so hättest du es nur dann sehen und verstehen können, wenn du den Ort gewechselt und einen anderen Standpunkt eingenommen hättest, den Standpunkt und Blickwinkel eines andern.
o Wenn du das Gehen und Kommen des Lichts aber hättest sehen können, dann nur durch das schützende Dunkel des russgeschwärzten Glases (oder besser der Spezialbrille) hindurch, das heisst nur, indem du dich mit dem Dunkeln verbündet hättest.
o Und nochmals das allerwichtigste: Nur weil es verloren war, konnten Menschen Zeugen davon werden, wie das Tagesgestirn sich wieder erneuerte in seiner ganzen strahlenden Glorie.
Ich setze meine Hoffnungen auf die Kinder des 11. August. Ich sehe eine Möglichkeit, dass sie diese Lehren der Eklipse in einer Weise mit ihrer Existenz verknüpfen, die sie zu besonders verständigen Menschen macht. Und solche werden wir mit Sicherheit nötig haben, ab dem ersten Jahr des neuen Jahrtausends. Die Übergänge von relativ stabilen Phasen unserer Geschichte zu immer kürzeren andern stabilen Phasen folgen immer rascher aufeinander, und die Monstren kriechen zuhauf aus dem Schatten und strecken ihre Fühler nach uns aus. Die, welche gehört haben, dass sie im Schatten geboren wurden, aber gleich danach ins neue Licht der verlorengegangenen und wiedergefundenen Sonne traten, mögen in dieser Tatsache ein Stück von jenem Heldenmut finden, den wir Älteren häufig an uns selbst vermissen.